„Aus hierarchischen Unternehmen werden Netzwerke“ – Wirklich?

Andreas Schulze-Kopp von Hirschtec hat ein FAZ-Interview mit Don Tapscott[ref]Frankfurter Allgemeine Zeitung, Montag, 20. Januar 2014 · Nr. 16, S.18[/ref] kommentiert. Titel: „Aus hierarchischen Unternehmen werden Netzwerke“. Der Post ist ebenso interessant wie das Interview – daher nehme ich im Folgenden auf beides Bezug.

Die Konsequenzen der digitalen Revolution

Don Tapscott vergleicht das Ausmaß der gesellschaftlichen Konsequenzen von Digitalisierung und Vernetzung mit denen des Buchdrucks. Dieser führte letztlich zu einer Überwindung des Feudalismus durch eine Egalisierung des Wissenszugangs in der Gesellschaft. Dabei sieht Tapscott in der „IT-Revolution“ noch größeres Potential als im Buchdruck:

„Das Internet aber gibt uns nicht nur Zugang zum geronnenen Wissen, sondern zu einer Intelligenz, die in den Köpfen aller Menschen dieser Welt steckt. Deshalb würde ich unser Zeitalter auch nicht als ein „Informationszeitalter“ beschreiben. Es zeichnet sich bereits ein „Zeitalter der vernetzten Intelligenz“ ab mit einer Verschiebung hin zur Kollaboration und Partizipation“

Auch wenn ich das Ausrufen ständig neuer Zeitalter relativ müßig finde, bezeichnet Tapscott mit diesem Hinweis ein wesentliches Moment. Nämlich den Umstand, dass mit der Vernetzung von Computern die ultimative Kombination aus Kommunikationsmedium und Speichermedium erreicht ist – und damit eben die Möglichkeit, die Intelligenz und das Wissen von Menschen über Kommunikationen quasi zusammenzuschalten und zu bündeln. Und gerade diese „kollektive Intelligenz“ können – und wollen – sich auch Unternehmen zu Nutze machen.

Hierfür bietet Social Media sowohl extern als auch intern mannigfaltige Möglichkeiten.

Unternehmen und die Intelligenz des Kollektivs

So z.B. durch Formen der externen Kooperation, in welchen Unternehmen ihre Kunden über Social Media in den Wertschöpfungsprozess einbeziehen. Durch sogenanntes Crowdsourcing verschmelzen Konsument und Produzent zum Prosumenten.

Intern besteht durch den Einsatz von Social Media die Möglichkeit, das „Intelligent Enterprise“ zu realisieren, das James Brian Quinn bereits vor 20 Jahren vorschwebte. In diesem wird der Druckerschen Ressource des „Wissensarbeiters“ nicht nur der adäquate Wert beigemessen, sondern sie wird auch in Form von „intellektuellen Clustern“ optimal koordiniert und genutzt.

Der Weg zum derart intelligenten Unternehmen ist allerdings lang und steinig, denn er ist mit dem Überwinden etablierter Muster verbunden und nicht weniger als der Übergang zu einer neuen Form der Organisiertheit: Der Weg vom Enterprise 1.0 zum Enterprise 2.0.

Der steinige Weg in die neue Welt

Das Enterprise 2.0 setzt auf die Prinzipien des Web 2.0 – und damit auf Selbstorganisation, Partizipation und Transparenz. Diese stehen etablierten Strukturen und Handlungsweisen gegenüber: Handeln auf Anordnung und Dienst nach Vorschrift, formale Hierarchie, Nepotismus und strategischer Umgang mit Wissen zu Zwecken des Machterhalts.

So teile ich (leider) auch die Skepsis von Schulze-Kopp, wenn er in seinem Post formuliert:

„Kollaboration in der heutigen Arbeitswelt findet oftmals nicht statt. Wenn überhaupt, dann nur im kleinen, abgeschotteten Kreis und für andere Kollegen nicht sichtbar.“ (A. Schulze-Kopp)

Der erste und wichtigste Schritt auf dem steinigen Weg ins Enterprise 2.0 und damit zu mehr Produktivität liegt also darin, „dass wir lernen, besser zu kooperieren“ (Tapscott ) und etablierte Strukturen zumindest zu einem Teil überwinden.

Die Angst vor der Strukturlosigkeit

Das ist aber gar nicht so einfach, denn wie bei allem Neuen und Unbekannten haben die Leute schlicht eines: Angst.

“Die Angst loslassen zu müssen, die Kontrolle abzugeben und darauf zu vertrauen, dass das Ergebnis nach Einbezug von vielen besser wird, als bei wenigen ausgewählten Kollegen. Unternehmen fürchten hier immer vermeintliche chaotische Arbeitsweisen und hohe Ineffizienzen. Dabei verlaufen doch viele Informationsprozesse gerade ohne umfassende Abstimmung viel ineffizienter und im Verborgenen schon heute recht chaotisch.“ (A. Schulze-Kopp)

Zusammenarbeit von vielen ist komplex, daher muss sie organisiert werden. Das geht nicht ohne ein Mindestmaß an Struktur. Strukturen, die den Regelfall nahezu perfekt leiten, schaffen aber auch immer Starrheiten, die ggf. der notwendigen Ausnahme im Wege stehen. Und dann fallen irgendwann Sätze wie dieser hier: „Da müssen wir mal sehen, wie wir das am Prozess vorbeidesignen.“ (Mitarbeiter eines Konzerns) Wenn Strukturen Effizienz verhindern, werden sie – ausreichend Mut und Kreativität vorausgesetzt – umgangen. Wäre das nicht so, würde oft überhaupt nichts mehr funktionieren. Wird es aber zur Regel, herrscht unter einer strukturierten Oberfläche oft das reale Chaos, das Schulze-Kopp anspricht. Warum also nicht gleich dort, wo Strukturen kontraproduktiv sind, diese abbauen?

Es ist das (flexible) Zusammenspiel aus formaler und informeller Organisation, welche die effektive Organisation ausmacht!

Dabei verlangen unterschiedliche Aufgaben unterschiedliche Grade der Formalisierung. Und an dieser Stelle möchte ich Don Tapscott widersprechen, wenn er sagt:

„Generell verschieben sich Organisationen von eher vertikal integrierten Modellen, von Befehl und Kontrolle oder von Hierarchien hin zu offeneren Netzwerkmodellen. Und diese Entwicklung macht vor keiner Institution in unserer Gesellschaft halt. […] Die Veränderungen betreffen ebenso Regierungen, das Finanzsystem, die Medien, Schulen, Universitäten oder die öffentlichen Transportdienstleister. Alle diese Sektoren werden sich Netzwerkprinzipien zu eigen machen.“ (Tapscott)

Ich glaube nicht, dass diese pauschale Aussage zutreffend ist. Richtig: Große Unternehmen sind zunehmend matrixförmig organisiert und in vielen Bereichen durch projektförmige Strukturen geprägt. Denn Projekte bieten der heute immer dominanteren Form der Wissensarbeit die notwendigen Freiheitsgrade, indem sie auf weitgehende Selbstorganisation setzen. Das ergibt aber nur Sinn bei eben solchen Tätigkeiten, die sich nicht hinreichend formalisieren lassen, wie z.B. solche, die im weitesten Sinne auf innovative Problemlösung abzielen. Forschung und Entwicklung und kundenindividuelle Dienstleistungen sind Beispiele.

Prozesse hingegen, die durch einen hohen Grad an wiederkehrenden Mustern geprägt sind – wie bspw. die Massenproduktion materieller Güter oder Verwaltungstätigkeiten – sind weiterhin am besten durch relativ starke Formalisierung organisierbar.

Daher möchte ich auch der Vorhersage eines grundlegenden Wandels vom Enterprise 1.0 zum Enterprise 2.0 eine Absage erteilen:

Selbst wenn mit der umfassenden Projektifizierung von Organisationen bereits Momente der Selbststeuerung und relativer Hierarchiefreiheit in die Welt der Unternehmen Einzug gehalten haben, so werden Hierarchie, Abhängigkeit und Kontrolle in Unternehmen gänzlich wohl nie verschwinden. Täten sie es, wäre das Enterprise mit der Metamorphose von der Version 1.0 zu 2.0 gewissermaßen erfolgreich gescheitert. Denn damit wäre aus der Organisation ein Netzwerk geworden.

Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich Hybridformen zwischen Enterprise 1.0 und Enterprise 2.0 weiter durchsetzen.[ref]Vgl. Reiss, Michael; Steffens, Dirk: Paradigmenwechsel im webgestützten Wissensmanagement. In: Wissenschaftsmanagement. Zeitschrift für Innovation. 1, 2010, S. 14-19[/ref]

Nämlich Organisationen, in denen zwar weiterhin eine formal funktionale Hierarchie besteht, in der aber gleichzeitig Räume existieren, die durch Selbstorganisation und Gleichberechtigung geprägt sind.

In eben jenem Spannungsfeld des „sowohl als auch“ zwischen hierarchischer und netzwerkförmiger Koordination schlummern die Potentiale, die es zu erschließen gilt – auch und gerade unter Zuhilfenahme von Social Software.

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4 Antworten zu „Aus hierarchischen Unternehmen werden Netzwerke“ – Wirklich?

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  2. Patrick sagt:

    Auch wenn der Artikel alt ist. Er ist gut geschrieben. Wobei ich eine (gerade aus soziologischer Sicht) Anmerkung hätte. Sie schreiben die Menschen haben „Angst“. Das wäre eher die passive Beschreibung von dem Neuen. Aber gleichzeitig haben spezifische Gruppen auch immer Eigeninteressen, sprich der Faktor Macht spielt immer eine Rolle und kann nicht einfach hinwegdividiert werden.

  3. Lieber Patrick,
    vielen Dank für Ihren Kommentar und das Kompliment.
    Alt aber zeitlos, will ich meinen 😉

    Anmerkungen aus soziologischer Perspektive sind mir sehr willkommen.

    „Sie schreiben die Menschen haben “Angst”.“
    Jein. Ich zitiere hier A. Schulze-Kopp – und so wie ich ihn verstehe, herrscht in den Führungsetagen von Unternehmen Angst vor Chaos und Kontrollverlust. Natürlich ist das Bedürfnis des (individuellen) Machterhalts ein immer mehr oder weniger offen zutage tretender Faktor. Hier ging es jedoch m.E. mehr um die Frage der Kontrolle.

    „Das wäre eher die passive Beschreibung von dem Neuen.“
    Das verstehe ich leider nicht. Können Sie es mir erklären?

  4. Patrick sagt:

    Ich habe damit lediglich gemein, dass Innovation oder weiter gesprochen Wandel schon immer ein Phänomen war, mit dem Menschen zurecht kommen mussten.

    Dementsprechend gibt es unterschiedliche Verhaltensweisen wie man mit „Neuem“ umgeht. In meinen Augen ist „Angst“, in dem Sinne eher eine passive Beschreibung. Sie vertritt in Ihrem Beispiel einen eher besitzstandwahrenden Beigeschmack und führt zu konservativen Verhalten. Gleichzeitig suchen andere Akteure bewusst Wege, dieses „Neue“ für sich einzusetzen und dadurch Vorteile zu erlangen. Was quasi eine mehr „aktive“ Rolle wäre. Diese Dynamik wollte ich nur ansprechen. Es geht mir eher um die Rollen, die verschiedene Gruppen im generellen Prozess der Wandlung spielen.

    Ein Beispiel wäre, wenn jemand aus der Führungsetage bewusst die Expertise von Social Media nutzt, um damit neue Strategien und neues Verhalten zu rechtfertigen. Er stellt sich damit indirekt auf eine andere Seite, wie seine Kollegen.

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