René Sternberg hat in einem Blogpost völlig zu recht darauf hingewiesen, dass ein und dieselbe Social Software in verschiedenen Unternehmen zu ganz unterschiedlichem Nutzungsverhalten führen kann. In diesem Zusammenhang verweist er darauf, dass „Best Cases“ zu Enterprise 2.0 aus diesem Grund nur bedingt Sinn machen.
Da hat er Recht. Bedingt heißt aber eben – nur unter bestimmten Bedingungen. Darauf bin ich bereits in einem Kommentar zu seinem Post eingegangen und möchte das an dieser Stelle wiederholen:
Denn das Studieren von “Best Cases” kann durchaus sinnvoll sein: Wenn nämlich möglichst viele Rahmenfaktoren, die das Nutzungsverhalten beeinflussen (können), in den Best Cases mitbeschrieben werden. Diese können dann mit der Situationsanalyse des eigenen Cases verglichen werden. Und die ist ein Muss!
So ist es z.B. nicht nur von Interesse, welcher Branche die jeweilige Organisation angehört, sondern auch durch welche Funktionen die entsprechende Organisation dominiert wird. Also, sind bspw. Produktion, Marketing, Vertrieb, IT etc. die dominanten Bereiche oder liegt der Schwerpunkt woanders? Oder anders gesagt: Wer sind die leute, die das zeug nutzen sollen? Wie gestaltet sich ihre tägliche Arbeit? Welche Bedürfnisse haben sie?
Denn unterschiedliche Funktionsbereiche arbeiten auf unterschiedliche Art und Weise, so dass der Mehrwert von Anwendungen für die Mitarbeiter|innen ganz verschieden ausfallen kann und sie dementsprechend Social Software auf spezifische Art und Weise nutzen.
Beispiel: Nutzung von Lotus Notes
Dieses Prinzip der nutzerspezifischen Aneignung von Software hat Wanda Orlikowski vom MIT bereits 2000 in einem interessanten Artikel beschrieben, und zwar am Beispiel der Nutzung von Lotus Notes durch einerseits Consultants und andererseits IT-Spezialisten. Beide Gruppen nutzten Lotus Notes unterschiedlich stark, adaptierten die Software unterschiedlich schnell und sahen ganz verschiedene Anwendungsmöglichkeiten.
Orlikowski illustriert in ihrem Artikel sehr einleuchtend die Gründe für das unterschiedliche Verhalten:
Die Nutzergruppen unterschieden sich hinsichtlich
- ihres technischen Backgrounds,
- ihrer Aufgabe und damit verbundenen Wokflows (IT-Staff: technischer Support vs. Consultants: Management von Klienten),
- … und unterlagen in ihrer Arbeit verschiedenen formalen Rahmenbedingungen.
Die IT-ler waren aufgrund ihrer Erfahrung im technischen Support an das kooperative Arbeiten mit Softwarelösungen gewöhnt, erkannten dementsprechend schnell die Vorteile von Lotus Notes für ihren täglichen Workflow, experimentierten mit der Software und bauten sie in ihre Arbeit ein. Die Consultants hingegen hatten große Schwierigkeiten, überhaupt einen Mehrwert der Anwendung ausfindig zu machen – und es machte ihnen auch niemand vor.
Die IT-Worker konnten darüber hinaus die Zeit, die sie mit Lotus Notes verbrachten, ganz klar als Arbeitszeit abrechnen und wurden von ihren Führungskräften auch zur Nutzung angehalten. Die Consultants hingegen hatten Schwierigkeiten, die Nutzung von Lotus Notes mit den sehr rigiden Vorgaben der Zeitabrechnung in Einklang zu bringen..
(Orlikowski (2000): Using Technology and Constituting Structures: A Practice Lens for Studying Technology in Organizations)
Der letztgenannte Punkt, ob nämlich die Beschäftigung mit Social Software als Arbeit anerkannt wird und ob entsprechende Wertschätzung durch die Unternehmensführung erfolgt, zeigte sich auch in meiner Studie zur Deutschen Telekom als äußerst bedeutsam. Siehe hierzu meinen entsprechenden Blogpost.
Die Affinität zu Technik wiederum – im Beispiel von Orlikowski mit der Abteilungszugehörigkeit (IT) verknüpft – kann auch aus anderen Faktoren resultieren, wie z.B. der Altersstruktur der Beschäftigten einer Abteilung.
Ergo: Wenn man Best Cases erstellt, sollte man so viele Rahmenfaktoren wie möglich erheben und dokumentieren. Nur dann ist ein beobachtetes Nutzungsverhalten erklärbar.
Und bevor man Social Software im Unternehmen einführt, sollte eine entsprechende Analyse der unterschiedlichen Zielgruppen im Unternehmen erfolgen! Jeder seriöse Beratungsansatz beginnt aus gutem Grund mit einer Stakeholderanalyse.
Bzgl. des Einsatzes von Social Software im Unternehmen gilt: Für eine derartige Analyse hat insbesondere
die Soziologie das entsprechende Methodeninventar und das gedankliche Grundgerüst! Soziologie ist eben nicht nur gut, um abgehobene Theorien zu entwickeln oder Statistiken zu fälschen, sondern hat eben auch einen ganz praktischen Nutzen.
Die erfolgreiche Einführung von Social Software in Unternehmen ist davon abhängig, ob die eingesetzten Tools zum Unternehmen „passen“. Diese Passung ist aber leider eine, die von erheblicher Komplexität geprägt ist. Denn Social Software lebt von Sozialität – daher hat sie ihren Namen.
Wie es der Zufall so will, ist gerade die Soziologie eine Disziplin, die sich seit jeher mit der Komplexität sozialer Sachverhalte auseinandersetzt. Glücklicherweise ist sie in der Lage, nicht nur Komplexität zu erfassen, sondern eben auch, praktische Handlungsanweisungen aus ihren Analysen zu generieren. Diese Einsicht scheint sich in der Praktiker-Community immer weiter durchzusetzen.