145 Mrd. durch Digitalisierung. Wer’s glaubt …

Die BITKOM präsentierte Anfang Februar eine Studie der Prognos AG zu den „gesamtwirtschaftlichen Effekten der digitalen Arbeitswelt“ seit 1998. Warum man den Zahlen mit Skepsis begegnen sollte, schreibe ich in diesem Post.[ref]Es sei angemerkt, dass die „Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.“ (vbw) bereits 2013 eine Studie auf anscheinend der gleichen Datenbasis von Prognos präsentierte.[/ref]

Dass die sogenannte „Digitalisierung“, wie sie die BITKOM nennt, einen maßgeblichen Einfluss auf wirtschaftliches Wachstum hat, wage ich nicht zu bezweifeln. Ich bin jedoch skeptisch, dass die BITKOM- bzw. Prognos-Studie bzgl. der genannten Zahlen eine große Aussagekraft besitzt. Der primäre Grund liegt (wie bei so vielen Studien) im methodischen Vorgehen.

Stellen wir das Ergebnis voran:

„Die Analyse zeigt, dass die Digitalisierung in den einzelnen Wirtschaftszweigen jährlich zwischen 0,4 bis 0,9 Prozentpunkten zum Wachstum der Wertschöpfung beigetragen hat. Im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt beläuft sich der Wachstumsbeitrag der Digitalisierung auf 0,5 Prozentpunkte, was etwas mehr als einem Drittel des tatsächlich erfolgten Wertschöpfungswachstums im Untersuchungszeitraum entspricht. Dieser Wachstumsimpuls führt rechnerisch zu einem höheren Niveau der gesamten Wertschöpfung im Jahre 2012 in Höhe von 145 Milliarden Euro.“ (BITKOM 2014, S.4)

Ach. Kiek an. 145 Milliarden. Dasja ne Menge. Und wie seid Ihr da jetzt drauf gekommen? Das gucken wir uns mal an.

Digitalisierung

01000100 01101001 01100111 01101001 01110100 01100001 01101100 01101001 01110011 01101001 01100101 01110010 01110101 01101110 01100111

Unter „Digitalisierung“ versteht BITKOM die „zunehmende Nutzung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien“ und ergänzt, dieser digitale Wandel sei „deutlich mehr als die bloße Nutzung von Informations und Kommunikationstechnologien. Vielmehr setzt sich der Wandel selbst aus einer Vielzahl von technologischen Trends und veränderten wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen.“ (BITKOM 2014, S.6)

Diesen Wandel in einem Wort zusammenzufassen ist zugegebenermaßen schwer, …dennoch muss ich bei der vielbeschworenen „Digitalisierung“ von Kommunikation, der Arbeitswelt o.ä. immer an kleine Männchen denken, die am Fließband stehen und Nullen und Einsen produzieren, während über ihren Köpfen Sprechblasen mit dem Inhalt „0011100101001“ schweben … Ähem. Pardon.

Wer misst, misst Mist.

Um nun diese Digitalisierung irgendwie in Bezug zu wirtschaftlichen Größen setzen zu können, musste sie gemessen werden. Ergo kreierte BITKOM zu diesem Zweck die Variable „Digitalisierungsgrad“ und definierte sie wie folgt:

„Als Digitalisierungsgrad einer Branche ist in dieser Studie die Anzahl der als digital klassifizierten Patente in Relation zu allen Patenten, jeweils bezogen auf die Branche definiert“ (BITKOM 2014)

Als digital klassifiziert wurden Patente aus den Bereichen:

  • Computertechnologie
  • IT-Methoden für Managementaufgaben
  • Halbleiter
  • Digitale Kommunikation
  • Audio-visuelle Technologien

Weiterhin wurde davon ausgegangen, dass auch andere Patentklassen, die nicht diesem Kernbereich entsprechen, mittelbar von Digitalisierung betroffen sind.

Beispiel: Jemand meldet einen Computertisch zum Patent an. Dann beträfe dieses Patent neben der Patentklasse Computertechnologie auch den Bereich Tische und wäre beiden zugeordnet. (Wobei es tatsächlich die Patentklasse Computertische gibt – aber es ist ja nur ein Beispiel.)

Stammt nun mindestens eine der Patentklassen aus dem „Kernbereich der Digitalisierung“ (s.o.), „gilt dieses Patent als Patent mit diffundiertem digitalen Wissen.“ (BITKOM 2014, S.7)

Die Anzahl an Patenten mit „diffundiertem digitalen Wissen“ wurde dann in Relation gesetzt zur Anzahl aller Patente in der jeweiligen Patentklasse und daraus der Digitalisierungsgrad der jeweiligen Klasse ermittelt.

Also z.B. die Anzahl an Patenten im Bereich Computertische geteilt durch die Anzahl an Patenten im Bereich Tische. Dann weiß man nach BITKOMs Ansatz, wie stark digitalisiert die Patentklasse Tische ist.

Anschließend wurden die Patentklassen anhand eines bestimmten Schlüssels „den Wirtschaftsbereichen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zugeordnet“ und mittels eines „algorithmischen Ansatzes […] der der Relevanz der Patentklassifikation im jeweiligen Wirtschaftszweig entspricht“ gewichtet.

Bis hierhin wurde also bereits eine ganze Menge definiert und gerechnet. Die Größe „Digitalisierungsgrad der Patentklasse XY“ bietet demnach viel Spielraum für Interpretation.

Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch. 

Wie aber wurde nun vom Digitalisierungsgrad auf Wertschöpfungsbeitrag geschlossen?

Es wurde davon ausgegangen, dass „die Veränderung der Bruttowertschöpfung einer Branche […] stets auf drei Komponenten zurückgeführt werden“ kann: Einsatz von Arbeit (Stunden), Kapital (Nettoinvestitionen) und X.

X ist dabei ein „Residuum, das zu einem großen Teil den technischen Fortschritt, aber auch andere nichtbeobachtbare Größen umfasst.“ Unter den Teil von X, der als technischer Fortschritt definiert wurde, subsumierte man auch die „Erhöhung des Digitalisierungsanteils einer Branche“. Digitalisierungsgrad ist also eine Teilmenge von technischer Fortschritt ist eine Teilmenge von X.

Anschließend wurde durch Regressionsanalysen versucht, den technischen Fortschritt (das unbekannte X) durch den Digitalisierungsgrad der Branche zu erklären. Also: Wie hoch ist der Anteil des Digitalisierungsgrades an X?

Anschließend errechnete man den Anteil der Veränderung der Bruttowertschöpfung, der rechnerisch mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Digitalisierungsgrad zurückzuführen ist.

„Eine Erweiterung des technischen Wissens durch Digitalisierung führt dann zu einer Erhöhung der Wertschöpfung,ohne dass der Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital selbst erhöht werden muss.“ (BITKOM 2014, S.8)

Man hat also eine konstruierte Größe (Digitalisierungsgrad), die viel Spielraum für Interpretation lässt, in ein mathematisches Modell gebastelt, das letztlich mit (Fehler-)Wahrscheinlichkeiten operiert und gerechnet. Heraus kam der „Wachstumsimpuls“ pro Jahr, also der prozentuale Anteil der Digitalisierung an der Wertschöpfung.

OK. Kann man machen. Ist bestimmt auch nicht falsch. Aber irgendwie liest sich das doch schon anders als: „0,5% des Wirtschaftswachstums bzw. 145 Mrd. Euro gehen auf die Digitalisierung zurück.“ Oder?

Plausibilität

Ich verstehe wenig bis nichts vom Bergbau. Demzufolge mag es sein, dass gerade hier der Einsatz digitaler Informations- und Kommunikationstechnologie besonders hoch ist und entsprechend auch der wertschöpfende Einfluss der Digitalisierung.

Dennoch wünsche ich mir eine Erklärung dafür, dass u.a. in diesem Wirtschaftszweig ein weit höherer „Wachstumsimpuls“ von der Digitalisierung ausgeht als in der „Gruppe der Wirtschaftsbereiche mit hohen Digitalisierungsanteilen“ (s.u.).

BITKOM (2014, S.8): "Tabelle 1: Digitalisierungseffekt auf die Wertschöpfung nach Wirtschaftsbereichen, Wachstumsimpuls (1998-2012) und Niveaueffekt (Mrd. Euro real)"

BITKOM (2014, S.8): „Tabelle 1: Digitalisierungseffekt auf die Wertschöpfung nach Wirtschaftsbereichen, Wachstumsimpuls (1998-2012) und Niveaueffekt (Mrd. Euro real)“

BITKOM (2014) "Tabelle 2: Digitalisierungseffekt auf die Wertschöpfung in Wirtschaftsbereichen mit hohem Digitalisierungsanteil, Wachstumsimpuls (1998-2012) und Niveaueffekt (Mrd. Euro real)"

BITKOM (2014) „Tabelle 2: Digitalisierungseffekt auf die Wertschöpfung in Wirtschaftsbereichen mit hohem Digitalisierungsanteil, Wachstumsimpuls (1998-2012) und
Niveaueffekt (Mrd. Euro real)“

Oder ist dies bereits ein Indiz dafür, dass der „Digitalisierungsgrad“ mit seiner Basis in der Patentanzahl ein nur mäßig geeigneter Indikator für Wertschöpfungsimpulse ist?

Und die kleinen?

Viel gravierender finde ich aber einen ganz anderen Punkt. Denn der „Digitalisierungsgrad“ und damit eine tragende Säule des ganzen Konstrukts bezieht sich nur auf einen geringen Teil der (deutschen) Wirtschaft!

Indem nämlich der Digitalisierungsgrad schwerpunktmäßig auf der Anzahl der Patente beruht, wird mit dieser Methode ein ganz erheblicher Anteil der deutschen Wirtschaft nicht berücksichtigt: Die kleinen und mittleren Unternehmen, KMU.

KMU stellen den überwältigenden Anteil von mehr als 99% aller deutschen Unternehmen. Gleichzeitig liegt ihr Anteil an den Patenten jedoch bei nur etwa 20%.

Dies liegt u.a. an der im Vergleich zu Großunternehmen weit schlechteren Ressourcenlage, so dass insbesondere Startups die oft mehreren Tausend Euro für eine Patentanmeldung scheuen. KMU nutzen Patente daher oft vielmehr zur Beobachtung der Konkurrenz und weniger zum Schutze ihrer Ideen. Diesbezüglich setzen sie oft eher auf zeitlichen Vorsprung, Komplexität der Produktgestaltung oder Geheimhaltung.“

Abgesehen mal von der (notwendigen) Konstruiertheit des Modells sind in die ganze Rechnung also maximal ein Fünftel der deutschen Unternehmen eingegangen. Dabei sind gerade die kleinen oft hochinnovativ und computergestützte Technologien stellen vielfach entweder Produkt oder Basis ihrer Produkte und Dienstleistungen dar.

Die Hightech-Strategie der Bundesregierung trägt dem Rechnung, indem sie eine umfassende Förderlandschaft implementiert hat, die auf KMU ausgerichtet ist.

Die BITKOM-Studie hingegen scheint diesen Umstand schlicht zu ignorieren. Schade.

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